15
Mary Delaney saß mit Rebecca Dix, ihrer Vorgesetzten aus dem Pentagon, in der gemeinsamen Besprechung des Wissenschaftlichen Beirats und des Verteidigungsministers und verfluchte die Zeit, die sie brauchten, um sich zu beratschlagen; murmelnd scharrten sie in den Sackgassen idiotischer, unwissenschaftlicher Ängste herum – Was, wenn es nicht funktioniert? Was, wenn Marburg doch nicht so tödlich ist, wie es letzte Woche noch hieß? Was, wenn wir alle von der Spitze des CNN-Turms springen; würden wir wirklich sterben, nachdem wir nach achtzehnhundert Fuß Erdbeschleunigung aufs Pflaster knallen, oder sollten wir lieber doch noch einen Ausweichplan ersinnen? –, wie ein Haufen von schnatternden Microsoft-Geeks[5] in einer Rentnersiedlung.
Mary hielt es für idiotisch, Deliverance, das biochemische Trägersystem, in der Außenwelt zu testen, doch die anderen wollten sich nur durch umfangreiche Tierversuche mit tödlichen Krankheiten davon überzeugen lassen, dass die Angaben über die Qualität der genetischen Erkennungsmechanismen und die »maximale Tödlichkeitsdichte« der Wirklichkeit entsprachen. Als wäre das nicht schlimm genug, beabsichtigte man aus Geheimhaltungsgründen, den Test durchzuführen, ohne den involvierten Militärs offen zu legen, wie hoch das Risiko war. Das aber, da war Mary sich völlig sicher, war dumm genug, um sich für einen Darwin zu qualifizieren.
»Die Muschkoten werden zu unvorsichtig damit umgehen, wenn sie nicht Bescheid wissen«, betonte Rebecca Dix soeben in ihrem Schlusswort. Sie schnitt ihre Worte auf den bizarren Cocktail aus Einfachvokabular und Macho-Mist zu, der offenbar verlangt wurde, wenn man über Rüstungsinvestitionen und Waffenentwicklung sprach. »Man braucht ihnen trotzdem nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Es reicht, wenn man ihnen sagt, es wäre Ebola oder irgendein verdammtes Hantavirus, das für Menschen doppelt so tödlich ist. Ein fleischfressendes Virus. Es spielt keine Rolle.«
»Die Einrichtung ist auf BSL-4-Standard«, sagte Ramirez, der Vertreter des Verteidigungsministers. »Es sollte keinen Unterschied machen.«
»Aber Menschen sind nun mal Menschen, und darum ist da eben doch ein Unterschied«, entgegnete Dix unbeirrt und verbiss es sich, mit den Zähnen zu knirschen. »Jede Einrichtung ist nur so sicher wie die unvorsichtigste Person darin. Und eigentlich möchte niemand wirklich dort sein. Die Leute werden also hastig arbeiten, um früh fertig zu werden. Dann machen sie Fehler. Das ist ganz natürlich. Und sie wissen, dass wir ihnen die Wahrheit verschweigen. Das macht sie ärgerlich. Gleichzeitig fürchten sie sich, und daher sind sie mit den Gedanken nicht bei der Arbeit.«
»Dann wird es Anreiz genug bieten, besonders vorsichtig zu sein.«
Manchmal fragte sich Mary, wie die Leute ringsum eigentlich an ihre Ämter gekommen waren. Sie fragte sich, was sie vor dem Einschlafen dachten und in welcher Welt sie lebten, dass sie so selbstsicher vorhersagen konnten, andere würden genauso reagieren, wie sie es sich vorstellten. Sie wussten einen Scheiß über die normalen Menschen, deshalb verstand Mary nicht, wie es kam, dass ausgerechnet solche Leute über das nationale Vorgehen in Sicherheitsfragen entschieden, die am Ende echte menschliche Wesen betrafen. Hätte sie nicht damit rechnen können, schon bald ihren Hintern auf einen ihrer Sessel zu setzen, hätte sie sich versucht gefühlt, ihnen ins Gesicht zu sagen, was sie von ihnen hielt. Doch hätte nur ihr Zorn aus ihr gesprochen, und wenn sie eins gelernt hatte, dann wie sie ihm Zügel anlegte.
Die Entscheidung wurde gefällt, obwohl Dix dagegen stimmte. Man würde weitermachen.
Ramirez wandte sich Mary zu, indem er seine Körpermassen herumwuchtete wie ein beidrehender Tanker, und sagte, noch wütend über Dix’ Argument:
»Sie werden unvorsichtig. Sie sollen das FBI völlig von der Sache fern halten. Mit Halbheiten ist nichts gewonnen. Die Chinesen verfügen bereits über eine Reihe von Seuchen, die auf bestimmte Vektoren innerhalb der Bevölkerung zielen. Die Pakistaner haben NervePath-Prototypen entwickelt, die im Grunde Religion als ansteckende Krankheit übertragen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir können Ihre Bedenken nicht über das Wohl des ganzen Landes stellen.«
»Religion war schon immer ansteckend«, entgegnete sie und blickte vielsagend auf das goldene Kreuz, das an einem feinen Kettchen über seinem Schlips und Kragen baumelte, »und es war nicht die Schuld unserer Leute, dass der Mappaware-Test die Bevölkerung kontaminiert hat. Diese undichte Stelle lag bei Ihnen. Und genauso wenig wird es unsere Schuld sein, wenn dieses Zeug außer Kontrolle gerät und ganze Bundesstaaten entvölkert.«
Sie starrte ihn nieder, denn jeder wusste, dass er eigentlich die Anstrengungen des perfektionierungsfeindlichen Elements eindämmen sollte, das sich in den Ebenen der Regierung ausbreitete, und es gelang ihm nicht.
»Keinen Streit.« Ekaterina Estevez, Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs, lehnte sich auf ihrem Stuhl am Kopf des Tisches zurück. »Wir sind doch keine Kinder. Die Versuche müssen sein. Mary, Sie werden das Interesse des FBI am Projekt Mappa Mundi beenden. Juan, Sie sorgen dafür, dass alle anti-perfektionistischen Aktionen der Dunklen Fraktion hinausgezögert werden, bis das Mappa-Projekt sich völlig in der Abgeschotteten Anlage befindet. Alle anderen unterstützen die beiden Vorhaben, wo es geht. Und dann werden wir endlich den Punkt erreichen, an dem uns funktionstüchtige Systeme zur Verfügung stehen. Dann geht es nur noch um die Frage, ob wir zuschlagen oder nicht. Wir sind uns alle über die Auswirkungen im Klaren. Schieben wir es nicht noch länger auf. Es wird Zeit abzustimmen.«
Das Schweigen, das auf ihre Worte folgte, wirkte in fast greifbarer Weise finster, dass Mary bei sich rief: Götterdämmerung, dunkle herauf!, und am liebsten lauthals gekichert hätte. Sie biss sich auf die Zunge.
Wenn Mappaware erst einsatzbereit war, konnte man damit die Feinde der Vereinigten Staaten dadurch beseitigen, dass man sie einfach als staatstragende Bürger neu erschuf.
Guskow hatte ihnen lange und ermüdende Vorträge über das Wie und Warum gehalten, einschließlich theoretischer Memetik und Genetik, Hirnphysiologie und Gedankenbildung, ganz zu schweigen Anpassungspsychologie und die vielen anderen komplizierten Kleinigkeiten, die man zu beachten hatte, wollte man die Persönlichkeit eines Menschen in ihre Bestandteile zerlegen. Niemand an diesem Tisch begriff davon auch nur die Hälfte, doch alle hatten verstanden, dass sie dadurch ein Werkzeug in die Hände bekamen, das Menschen geistig in Lehm verwandelte, den sie in jede Form modellieren konnten, die ihnen erstrebenswert erschien, so oft sie wollten.
Von dieser Abstimmung hing ab, ob es die USA war oder jemand anders, der diese Mühe auf sich nahm, um die Welt zu einen.
Mary glaubte Guskow, wenn er sagte, es sei einem Menschen möglich, grundsätzlich er »selbst« zu bleiben (wobei man sich in ein Minenfeld der Definitionsprobleme begab), während der Kern der Persönlichkeit hinreichend verschoben wurde, dass ein Taliban sich als im Ausland lebenden Amerikaner verstehen, der Flagge treu sein, die Demokratie vertreten und sogar Libertarianer auf der gleichen Straße dulden konnte, weil über ihnen allen das Sternenbanner flatterte. Es klang irrsinnig. Es musste erprobt werden. Ausnahmslos glaubten sie jedoch daran, denn sie hatten gesehen, wie Michail Guskow genau das durch die Anwendung einfacher Hypnose an einer der ihren bewerkstelligt hatte – an Sandy Piccirilli, Estevez’ Privatsekretär.
Piccirilli hatte in diesem Raum gesessen, an seinem gewohnten Platz, und war binnen weniger Stunden nacheinander ein kommunistischer Revolutionär, ein frommer Hindu, ein Verfechter der Überlegenheit der weißen Rasse und der König von Siam gewesen. Guskow hatte erklärt, dass jeder Wechsel eine vollständige Verschiebung der Kern-Memeplexe erfordere, welche Sandys gesamten Memecube beeinflusse; der Memeplexe, durch die er unbewusst sein gesamtes Wissen über die Welt filtere. Das Ergebnis war sehr lustig erschienen. Doch ob Sandy nun aus tiefstem Herzen schwor, die Bourgeoisie zu zerschmettern oder Shiva zu opfern, das eigentlich Bemerkenswerte war, dass sie alle nach wie vor Sandy vor sich sahen, allerdings einen Sandy mit reichlich haarsträubenden Ideen.
Diese neuen Ideen wären natürlich enormen Belastungen ausgesetzt gewesen, wenn sie angehalten hätten. Die Unvereinbarkeit dieser Anschauungen mit seiner Umwelt, mit der Wirklichkeit, die ihm von seinen Freunden vermittelt wurde, hätte sie am Ende entweder zerstört oder ihn ins Irrenhaus gebracht. Guskow behauptete jedoch, dass es in Gegenwart von NervePath dazu nicht mehr kommen werde. Weil das System das gesamte Bewusstsein neu strukturierte, die neue Idee zu bevorzugen, drang sie in die Persönlichkeit ein, ohne dass es zu internen Konflikten kam.
Die Identität war der geheiligte letzte Teil des Individuums, in den sich die Wissenschaft noch auf keiner tiefer gehenden Ebene als auf der des Gesprächs eingemischt hatte. Bald würde das an der Tagesordnung sein.
Genau wie bei den Methoden zur körperlichen Perfektionierung war niemandem auch nur entfernt wohl dabei, einen »normalen« Standard und eine »erwünschte« Bandbreite von Werten festzulegen. Doch solange man nur davon sprach, aus gefährlichen Gegnern Verbündete zu machen, die alle »essenziellen« Merkmale ihrer Andersartigkeit behalten konnten (»ihre Farbe«, dachte Mary), fand man das Unbehagen nicht unerträglich. Tatsächlich erschien die Vorstellung einer durch die sanften Bande demokratischer Übereinstimmung befriedeten Erde durchaus verlockend – besonders, wenn die fragliche Demokratie nach amerikanischem Vorbild geschneidert wäre. Es erschien verdammt ideal.
Und wenn man auch nur einen Rest von ethischen Grundbegriffen übrig hatte, stank es wie ein zwei Wochen totes Stinktier.
Mary hielt die Idee für unglaublich und zutiefst beängstigend. Sie sah nicht, welchen Sinn der Fortbestand der menschlichen Rasse noch haben sollte, wenn alles sich über alle wesentlichen Fragen völlig einig war. Was für ein homogenisiertes Leben in Stepford würde das sein? Was bedeutete es noch? War Unterdrückung, ohne dass die Unterdrückten davon wussten, nicht dennoch eine verdammt schreckliche Unterdrückung? Was unterschied es davon, mit einer überlegenen Armee in ein fremdes Land einzumarschieren und zu sagen, »tut, was wir euch befehlen, sonst töten wir euch«? Doch nur insofern, als es nicht einmal ansatzweise Widerstand geben würde – den Widerstand hätte man bereits im Vorfeld niedergewalzt.
»So wird es nun auch wieder nicht sein«, hatte Guskow ihr versichert. »Nachbarn werden sich nach wie vor darüber streiten, wem das Obst gehört, das am Ast über dem Zaun hängt. Überall wird es noch immer Ungleichheiten geben, Klassenschranken, Reiche und Arme. Schon wenige Stunden nach der anfänglichen Woge der Loyalität beginnen die Menschen vom Standard abzuweichen, den die Software gesetzt hat. Sie denken selbstständig, und sie verändern sich. Aber die größten Unterschiede, die völkervernichtenden Vorstellungen vom Sinn des Lebens und dem, was wichtig ist – sie sind durch das NP-System so lange abgeglichen, dass die Weltbevölkerung auf breiter Basis zu einer Übereinstimmung findet. Danach lassen sich Abweichungen, die in ernsthaften Gewalttaten kulminieren könnten, human mit Auffrischprogrammen eindämmen. Das wären nur geringfügige Korrekturen.« Er hatte nicht gesagt, welche und, noch wichtiger, wessen Weltsicht er als Vorlage seines Zauberkunststücks benutzen wollte. Diese Frage wäre Gegenstand bevorstehender Diskussionen auf der Ebene des Präsidenten und des NSC.
Na ja, dachte Mary, leicht zu sagen und schwer danach zu leben, und wenn Deer Ridge der einzige Testlauf bleibt, dann helfe uns Gott. Doch wie konnte sie trotz all ihrer Mentalreservationen (ha ha) mit Nein stimmen, nachdem sie und andere beim CIA die Prototypen von Mappaware bereits bei ihren inoffiziellen Mitarbeitern einsetzten?
Mary wusste, dass das Verfahren funktionierte. Auch wenn den Leuten ihre Anweisungen nicht gefielen, vermochten sie nicht dagegen aufzubegehren, sondern mussten sie befolgen. Sie fühlten sich erbärmlich, aber sie verrichteten ihre Aufgabe, und wegen des natürlichen Kniffs, dass es zwischen einer Handlung und ihrer Bewusstwerdung eine Verzögerung gibt, deuteten sie ihre Gründe neu und hielten, was sie getan hatten, für ihre eigene Entscheidung. Einfach brillant, dieses Verfahren.
Mary war dagegen, dass jeder damit behandelt wurde, doch unbestreitbar liefen dadurch zahlreiche Dinge viel glatter als in der Vergangenheit. Niemand stieg aus, wenn Aussteigen unmöglich war. Aber wenn dieses Verfahren jemand anderem in die Hände fiel … sie legte keinen Wert darauf, in der Tiefe ihrer grauen Hirnmasse zum Japaner oder Araber zu werden, die Sicherheitspläne der Nation mit einem Lächeln zu übergeben und noch einen schönen Tag zu wünschen. Nein, für Zimperlichkeit war der falsche Zeitpunkt.
Als Dix’ Fraktion für Ja stimmte, hob Mary ebenfalls die Hand.
Die Aktion wurde genehmigt.
Niemand stimmte dagegen. Ramirez und einige andere enthielten sich. Mary wusste, dass ihnen schon die schiere Existenz Guskows und seiner Errungenschaften zuwider war, doch sie waren politisch zu klug, um mit Nein zu stimmen. Sie musste diese Leute im Auge behalten. Menschen, in deren Köpfen sich gewaltige Widersprüche breitgemacht hatten, konnten ihre Persönlichkeiten erfolgreich fragmentieren, um höhere Effizienz zu erzielen. So wie sie. Wie Guskow. Sie konnten alles schaffen.
Als sie die Besprechung beendeten und im Vorzimmer ihre Pads abholten – solche Treffen fand stets im Privaten statt, und es wurden keine Aufzeichnungen angefertigt –, fand Mary drei neue Nachrichten vor. Eine von Fassmeyer, leer. Eine von Jude.
Sie wusste schon vorher, was darin stand. Der arme Kerl. An ihn wollte sie im Moment gar nicht denken. Als sie seinen Namen las, empfand sie keinerlei Scham oder Schuldgefühl. Nein, das wäre ihr zu viel Salat zum Mittagessen gewesen.
Die letzte Nachricht stammte von ihrem Kontaktmann beim Europäischen Verteidigungsministerium.
Als Mary diese Nachricht las, rutschte ihr das Herz in die Kniekehlen, dann durchfuhr sie kalter Zorn. Warum musste in diesem Job immer sie es sein, der die Arschkarte zufiel?
Dr. Natalie Armstrong desertiert. Fühlung verloren. Könnte nach D.C. unterwegs sein. Als gefährlich eingestuft.
Wie konnten diese Leute nur so dumm sein? Eine Frau, auf sich gestellt, den Kopf voller NP und ohne Hilfe, und sie verloren sie. Gefährlich? Die hatten wohl eine Schraube locker!
Mary würde ihnen schon zeigen, was gefährlich war.
Dan war weit weg von zu Hause. Wo, das wusste er nicht; es konnte fast überall sein. Man hatte ihm die Augen verbunden und ihn gefesselt, vor sechs bis acht Stunden, wie er meinte. Aus dem Kleinbus schaffte man ihn in ein anderes Fahrzeug, dann legte man ihn in einen Kofferraum und fuhr ihn den Geräuschen zufolge über ein Flughafengelände. Er war geflogen und dann in einen weiteren Wagen gesetzt worden. Er wartete lange in völliger Stille, und schließlich brachte man ihn in diesen Raum, wo er wenigstens umhergehen durfte. Am Ende hatte er sich gesetzt und starrte auf den Fenstervorhang. Er trank aus dem Wasserkrug, den man ihm hingestellt hatte. Ein Fernseher stand im Raum, funktionierte aber nicht. Das hatte Dan ausprobiert. Ihn zu verlassen war unmöglich; als Dan es versuchte, hatte ihn der Schläger, der ihm in der letzten Nacht am Fluss fast den Rücken gebrochen hätte, warnend angebrüllt. Deshalb saß er nun in diesem Zimmer, blickte auf das hässliche, billige Mobiliar und pickte an den Schlammkrusten auf seinen Händen und seiner Hose. Sein Pad war verschwunden. Trotzdem entwarf er Nachrichten an Natalie: Hilferufe zwischen Entschuldigungen, denn wenn er nicht solch ein hoffnungsloser Blödian wäre, wäre nichts von alledem geschehen. Wahrscheinlich nicht.
Vor Hunger knurrte ihm der Magen und verknotete sich im nächsten Moment wieder vor Angst. Dan stand auf, ging die drei Schritt von einer Wand zur anderen und setzte sich wieder. Ein Bett stand in dem Raum, doch es war mit einer schäbigen blauen Tagesdecke aus Nylon bedeckt, die voller Zigarettenbrandlöcher war und die er nicht anrühren wollte. Schamhaare, und nicht wenige, klebten überall darauf. Hier und da sah er eingetrocknete Spritzer von Essen oder sonst etwas. Auf dem Stuhl war ein Fußabdruck gewesen, aber wenigstens stank er nicht oder sah aus, als hätte er Flöhe. Dan war ganz unten angekommen, schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Er war in einem Loch, wo niemanden etwas Gutes erwartete, aber was sie hatten, das hatten sie eimerweise.
Auf dem Fernseher lagen für ihn eine Schachtel Zigaretten und ein Päckchen HighFive-Kaugummi, vollgepackt mit Stoff und Beruhigungsmitteln. Er kaute etwas davon, weil er sonst nichts zu tun hatte. Shelagh Carter also, hm? Dieses Miststück.
Ihn schauderte, und er suchte nach dem Heizungsregler oder einer Decke. Seine Kleider rochen muffig, nachdem sie so lange vom Flusswasser feucht gewesen waren.
Der Kaugummisaft schmeckte süß. Dan fühlte sich ein wenig besser.
Dann öffnete sich die Tür, und sie stand vor ihm, eine Person, die in ihrem blauen Kostüm, mit ihrem makellosen Gesicht und dem schimmernden Haar niemals in eine Gegend wie diese passen würde. Staatsbeamtin-Barbie mit einem Scanner in der Hand, als blickte sie in ihr eigenes Manga-Heft, die rosa glasierten Fingernägel auf dem Abzugbügel.
»Sie waren uns eine große Hilfe, Mr Connor«, sagte sie höflich mit einem britischen Akzent, der aufgesetzt wirkte, obwohl das auch am Gummi in Dans Gehirn liegen konnte. »Es tut mir sehr Leid. Es hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun, wissen Sie.«
»Ach nein?«, entgegnete er und verstummte, weil ihm nichts Schlagfertiges einfallen wollte, weder der richtige Spruch noch die richtige Stimme, um es zu sagen. Sie würde ihn töten, und er wusste nicht einmal, weshalb. Seine Beine begannen zu zittern. Er dachte: Ich hätte mir dieses Scheiß-Flugticket kaufen und nach Rio abhauen sollen.
»Was dann?«
»Rein beruflich«, sagte sie und richtete das Gerät auf ihn.
Er zuckte zurück, aber er spürte nichts. Unbeabsichtigt verschluckte er den Kaugummi. Der Klumpen rutschte ihm die Kehle hinunter und blieb auf halbem Wege stecken. Dan blickte sich um und fragte sich, wo er war und wie er hierher gekommen war, was es zu bedeuten hatte und weshalb er nichts begriff.
»Wo bin ich?«, fragte er sie.
»Nirgendwo«, versicherte sie ihm.
Er nickte; das leuchtete ein. »Wer bin ich?«
»Niemand.« Sie wandte sich den beiden kapuzentragenden Männern zu, die ihr in den Raum gefolgt waren. »Halten Sie ihn gegen die Wand«, sagte sie, »und schalten Sie das Licht ein.«
Sie lächelte ihn an. »Alles ist okay. Sie machen das sehr gut.«
Er erwiderte ihr Lächeln und freute sich, dass er seine Sache gut machte. Er stand im hellen Licht und blickte aufs Display ihres Pads. Sie schickten jemandem ein Bild von ihm. Auf Bildern lächelt man. Man zeigt sich von der besten Seite.
Einige Augenblicke trommelte Natalies Pad in ihrer Tasche und trillerte geduldig, während sie es aus ihrer Jacke zerrte, dann stieß es ein hohes Klagen aus wie ein trauriges Baby, um sie auf sich aufmerksam zu machen.
Als das teuer gekleidete Paar auf der anderen Seite des Ganges schon missbilligend »Na, na!« zu sagen begann, brachte Natalie das Pad mit einer heftigen Bewegung zum Verstummen, und der Anruf kam auf den Bildschirm. Sie hielt ihn sich vors Gesicht, während sie sich fragte, wer diese Nummer herausgefunden haben konnte. Hoffentlich war es Dan, und trotzdem fürchtete sie sich vor der Antwort. Jede Sicherheitsbehörde, die auch nur einen Schuss Pulver wert war, musste die Nummer mittlerweile herausgefunden haben.
Dans Gesicht erschien auf dem Display und taumelte auf die Kamera an seinem Ende der Leitung zu, als wäre er betrunken. Sein Haar war fettig und wirr, und er sah schrecklich aus. Auf seinem Gesicht stand ein absonderliches, dümmliches Grinsen.
»Dan, du blöder Arsch«, begann Natalie, indem sie direkt in die Mikrofonöffnung flüsterte und ihn entzückt angrinste. »Gott sei Dank bist du …«
Er sah sie verwirrt an und verhaspelte sich, als er ihren Namen sagen wollte, dann wurde er plötzlich aus dem Bild gerissen.
Eine riesige eisige Faust schloss sich plötzlich um Natalies Kehle und um ihre Brust. Ihr stockte der Atem. Gleichzeitig drehte sie das Pad in der Hand, um damit um die Ecke zu blicken. Doch wer immer bestimmte, welches Bild sie empfing, ließ sie schon mehr sehen, als ihr recht war.
Die Sicht fuhr zurück und offenbarte ein Zimmer mit billiger Blumenmustertapete, zu viel Nylonspitzen und vergilbender weißer Farbe wie in einer heruntergekommenen Pension. Dan wurde von zwei dunkel gekleideten Gestalten gegen die Wand gedrückt. Ihre Köpfe steckten unter verspiegelten Mylartaschen, wie man sie für Computerplatinen benutzte, um sie vor statischer Aufladung und Magnetfeldern zu schützen.
Natalie versuchte zu begreifen, was sie sah, fragte zögernd: »Dan?«, als das Gesicht einer Frau erschien.
Natalie drückte augenblicklich die Aufnahmetaste, doch es funktionierte nicht. Sie senkte den Blick, um zu sehen, ob sie daneben getippt hatte, als eine Stimme, die zu einem rauen, kehligen Schleppen verzerrt wurde, aus dem Lautsprecher drang.
»Dr. Armstrong. Ich schlage vor, dass Sie aufhören, an Ihrem Pad herumzufummeln, und mir zuhören. Sie haben zwei Minuten. Lassen Sie mich Ihnen zunächst zeigen, dass ich es ernst meine.«
Natalie sah sich das Gesicht genau an, das in diesen Sekunden das gesamte Display ausfüllte, und versuchte, ihm jedes Quäntchen Information zu entnehmen.
Ein junges Gesicht, um die fünfunddreißig. Feine, regelmäßige Züge, die Haut glatt und von einer keltischen Blässe, aber stark geschminkt. Die Nase und die Wangen sprenkelten einige Sommersprossen im hellsten Ocker. Sie waren so gut placiert, dass sie durchaus tätowiert sein konnten, um gezielt den Eindruck guter Laune zu erwecken. Die Augenbrauen zeigten das Kastanienbraun eines natürlichen Rotschopfs, und das lange Haar mit den dichten Locken war von der gleichen Farbe. Die Augen der Frau waren blau, erschienen aber nicht echt, sondern eher, als würde sie blaue Kontaktlinsen tragen, wobei ihre Augen eine andere Farbe besaßen. Natalie erblickte unverhohlenen Ehrgeiz, Geist, Intelligenz und einen Willen, der stark genug war, um rücksichtslos alles niederzuwalzen, was ihm in den Weg kam. Die Mischung wirkte erstaunlich attraktiv, als diese plötzlich aufgetauchte neue Feindin elegant die Schulter zur Seite drehte, damit der Rest der Szene in Sicht kam.
Graziös hob die Frau den Arm. In der Hand hielt sie eine Pistole, wie Natalie sie noch nie gesehen hatte. Sie war grotesk groß und plump und wirkte viel zu schwer, um sie zu heben, doch der Frau schien sie keine Schwierigkeiten zu machen. Ein leises Zischen war zu hören, und hinter Dans rechtem Oberschenkel erschien an der Wand ein großer roter Fleck. Natalie hörte ihn schreien, während die Frau sich umdrehte, den Blick auf ihn verstellte und Natalie in die Augen sah.
Das Geschrei war ein nahezu unglaublicher Lärm, hoch, verängstigt, fassungslos: die Folge eines Schmerzes, der das Bewusstsein von allem anderen abtötete. Mit einer verstörenden Lautstärke gellte es aus dem digital perfektionierten Lautsprecher des Pads und hallte mit einer Eindringlichkeit durch die Erste Klasse des Flugzeugs, dass mehrere Leute vor Furcht aufschrien, es wäre zum explosiven Druckverlust gekommen. Natalie zuckte erschrocken zusammen, und das Entsetzen, das ihr wie Nadeln durch die Brust fuhr, ließ sie so sehr zittern, dass sie das Pad fallen ließ und auf dem Boden herumkriechen musste, um es wieder aufzulesen. Es heulte und kreischte weiter, wobei der Bildschirm nach unten lag.
»Ich bitte um Verzeihung!«, begann die teuer gekleidete Frau auf der anderen Seite des Ganges so laut sie konnte. »Ich glaube kaum, dass Horror …«
»Verpiss dich!«, fauchte Natalie sie an, als sie sich aus der Hocke erhob; sie klang so giftig, dass die Frau erbleichte und vor ihr zurückwich. Natalie nahm die Augen nicht vom Pad. Ihre verstärkten Sinne und ihre eigentümliche »Lebendigkeit« seit der letzten Beschleunigung der Selfware steigerten sich plötzlich. Das Flugzeug und die anderen Passagiere hörten auf zu existieren.
»Hören Sie zu und antworten Sie mir«, sagte die Rothaarige. Sie wartete geduldig auf Pausen zwischen Dans Schreien, um zu sprechen, und grinste über Natalies Schwierigkeiten, die sie ohne Zweifel sehr gut hörte. »Wenn nicht, erledige ich, was von ihm noch übrig ist.« Sie drehte sich wieder um und hob den Arm.
»Warten Sie! Halt!«, schrie Natalie und zog sich das Pad dicht vors Gesicht, damit man sie auf der anderen Seite umso besser hörte. »Hören Sie auf! Bitte! Lassen Sie ihn. Was wollen Sie?« Wenn sie vorgehabt hatten, Natalie aus dem Gleichgewicht zu bringen, hatten sie damit zu viel Erfolg. Ein Teil von ihr, der nicht ihrer bewussten Aufmerksamkeit bedurfte, informierte sie, dass ein Steward sich ihr nähere und die Leute sie beobachteten und auf sie zeigten.
Diesmal hob die Frau keine Pistole. Natalie erkannte den Scanner augenblicklich.
Sie richtete ihn auf Dan. Er hörte auf zu schreien und stellte sich gerade hin. Sein Gesicht entzerrte sich, als würde ein Film rückwärts abgespielt.
Blut bildete einen weite Pfütze um seinen rechten Fuß, und an seinem linken Bein waren feine Flecken, wie nachträglich angebracht, wo verkochendes Blut hingespritzt war, doch nun schien es, als wäre alles mit ihm in Ordnung. Er wirkte gelassen und aufmerksam und grinste sogar ein wenig wie früher, während er unbekümmert fragte: »Tag, Natalie, was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Dan!«, rief sie leise und berührte den Schirm, wo sein Abbild sich bewegte; er balancierte unsicher auf dem unverletzten Bein. Ihr wurde klar, was sie benutzten und dass sie ihn schon lange vor dieser Eskalation infiziert haben mussten – lange, bevor Jude auftauchte. Wieso hatte sie es nur nicht früher bemerkt, als noch Zeit war, etwas dagegen zu unternehmen? Hatte er sie deswegen angesprochen, als sie ihn davonjagte, am Tag von Bobbys Experiment?
Die Frau kam wieder in Großaufnahme.
»Ihr Freund wurde mit einem Mindware-System sehr ähnlich dem Ihren infiziert. Doch das kennen Sie ja schon von Jude Westhorpe, Doktor.« Ihr Gesicht zeigte keine andere Regung als aufrichtige Gelassenheit. »Wir sind bereit, Ihnen zu vergeben, dass Sie gegen uns agiert haben, wenn Sie sich augenblicklich zu Ihrem Bestimmungsort in den Vereinigten Staaten begeben. Andernfalls müssten wir zu meinem Bedauern unsere funktionstüchtige Mindware auf Sie anwenden, um Ihre Mitarbeit beim geplanten Projekt sicherzustellen.«
Nachdem die Frau geendet hatte, hob sie den Scanner und gab einen neuen Befehl ein.
Natalie erkannte ihn als eine Zeichenfolge, die das NervePath in Dans Gehirn veranlassen würde, sämtliche Synapsen völlig stillzulegen. Wenn er bereits Sättigung erreicht hatte, bedeutete es seinen Tod.
Natalie vermochte kaum den Mund zu bewegen. Sie betrachtete die Frau, die zu ihr gesprochen hatte. Das bleiche Gesicht zeigte keine Gnade, während Natalie zu reden versuchte, und da wurde ihr klar, dass Dan sterben würde, weil sie, Natalie, der kluge Kopf Großbritanniens, nicht weiterwusste.
»Lassen Sie ihn gehen«, flehte sie wispernd, ohne sich zu schämen. Sie versuchte, ihre Gefühle in das Objektiv des Pads zu gießen, in dieses leere Statuengesicht. »Ich stimme zu. Ich bin ohnehin auf dem Weg nach Washington. Ich mache keinen Ärger mehr. Ich tue, was immer Sie sagen. Lassen Sie ihn gehen. Bringen Sie ihn in ein Krankenhaus! Bitte.«
Die Frau mit den kastanienbraunen Haaren nickte, und ihre Locken schlugen munter gegen ihren Hals. Dann drehte sie sich um und deutete mit dem Scanner wieder auf Dan. Natalie begann zu schreien.
»Nein! Nicht!«, kreischte sie wütend und schüttelte das Pad. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«
Doch Dan ergriff das Wort und sprach im beiläufigen Plauderton, mit seiner Imitation eines englischen Landadligen, und was er sagte, stammte wortwörtlich aus dem Bericht, den Natalie erst vor vierundzwanzig Stunden verfasst hatte:
»Das an Bobby X getestete Selfware-Programm stellt ein lernfähiges System dar, das innerhalb der Rahmenvorgaben die kognitiven Fähigkeiten des Wirtes bis an ihre Grenze maximiert. Die Geschwindigkeit der Veränderungen wird durch vorher existente Strukturen und Potenziale bestimmt. Nachdem die Veränderungen erfolgt sind, wird das NervePath-System zu einem Symbionten innerhalb der Wirts-ZNS. Jeder Versuch, das Wirken der NervePath-Naniten zu unterbinden oder sie zu entfernen, führt wahrscheinlich zu einem augenblicklichen und völligen Stillstand jeglicher neuraler Aktivität.«
Er grinste, winkte ihr schwach zu und fand im letzten Augenblick zu seinem alten Selbst zurück. »Natalie, stell dir das mal vor, Mädel.«
Sein Körper klappte zusammen, als seine Gelenke nachgaben, und er lag auf dem Boden, den Kopf von ihr weggedreht. Unter ihm breitete sich auf dem verkommenen Teppich die Blutlache aus; ein langer Schatten von der sinkenden Sonne. Er lag still.
Die Aufpasser stiegen gleichgültig über ihn hinweg, als er wäre er ein Sack voll Müll.
Die schöne Frau kehrte ein letztes Mal auf den Bildschirm zurück.
Natalie sah ihr über die Leitung in die Augen und dachte: Dich kriege ich. Und du wirst dir wünschen, mich nie gesehen zu haben. In ihr bewirkte eine Veränderung der Selfware oder eine Veränderung ihres Ichs, dass alle Unsicherheit zusammenschmolz und zu etwas Festem, Absolutem erstarrte. Sie begriff, weshalb Bobby noch auf der Welt bleiben wollte, um etwas geschehen zu sehen.
»Wir schicken Ihnen einen Wagen.« Sie war so herzlich. Echt professionell. Sie war stolz auf ihr Verhalten, als wäre es ein geschäftlicher Kniff, etwas Cleveres, ein Trick, den sie schon oft angewendet hatte. Darin lag ihre Schwäche.
»Tun Sie das«, entgegnete Natalie kälter und hasserfüllter, als sie sich je gefühlt hatte. Ihr war, als verwandle sich ihr Knochengerüst in Stahl, und ihre Innereien verfestigten sich zu einer Art Motor, der immer weiterlaufen und laufen würde, bis sie diese Frau fand und ihr das Leben Tropfen für Tropfen herausquetschte. »Tun Sie das nur.« Sie trennte das Gespräch und fand sich auf der Sitzkante wieder. Sie atmete langsam und gemessen – ein tiefer Atemzug ist ein …
Der Steward beugte sich ostentativ zu ihr vor; er hatte nur auf das Stichwort gewartet.
»Gleich im Bug haben wir eine Privatkabine für vertrauliche persönliche …«, begann er. Dann hob Natalie den Blick und sah ihn an.
Sein Mund arbeitete leer und versuchte, seine Wortkette wieder einzuziehen.
»Wo sind wir?«, wollte sie wissen.
»Ah, wir beginnen gerade den Sinkflug … Was tun Sie da? Nein, nein, Sie können jetzt nicht aufstehen, Madam, das Flugzeug beginnt den Wiedereintritt, und die Turbulenzen … verzeihen Sie bitte!«
Natalie schob ihn aus dem Weg und eilte rasch zum Bug der Maschine. Sie drückte sich an zwei weiteren Besatzungsmitgliedern vorbei, die gerade die Getränkewagen zum Wiedereintritt verzurrten, und legte die Hand an den Türgriff der Cockpitluke.
»Sie dürfen da nicht rein!«
Die Luke war ohnedies durch ein elektronisches Schloss mit einem Zifferntastenblock verriegelt, doch während der Steward ihr nachsetzte, um sie zurückzuzerren, musterte Natalie aufmerksam die Fingerschmutzflecken auf den Tasten, suchte nach den abgegriffensten Ziffern. Irgendwann während des Fluges hatte sie sogar gehört, wie die Kodenummer eingegeben wurde. Ihre Finger bewegten sich, bevor sie die Zahl hätte aussprechen können.
Eins Drei Zwei Eins.
Die Tür öffnete sich. Während der Steward sie an der Jacke packte, bahnte sie sich einen Weg durch die Öffnung und drängte sich in die kleine Nische hinter der Navigationskonsole. Sie nahm das gesamte Cockpit blitzartig in sich auf und griff augenblicklich nach dem Pfeffersprüher, den der Steward aus seinem Gürtel zog, als er sich plötzlich an seine Verhaltensmaßregeln bei einer drohenden Entführung erinnerte.
Sie schnipste die Kappe weg und verpasste ihm eine Dosis. Als er sich zusammenkrümmte, trat sie ihn nach hinten von sich fort und riss mit der Stärke, die aus Wut erwächst, das Tastenfeld von der Wand. Die Tür summte protestierend und fuhr knallend zu: eine weitere Taktik zur Terroristenabwehr.
Natalie warf den Klumpen aus Draht und Plastik auf den Boden und stützte sich mit dem Rücken an das Schott, während die Piloten sie feindselig anstarrten. Einer suchte mit dem Fuß nach dem Notknopf, verrutschte aber auf seinem Sitz, als das Flugzeug in die Atmosphäre eintauchte und ein heftiger Stoß durch den Rumpf ging.
Durch die Fenster konnte Natalie gerade den hohen Bogen des blauen Erdhimmels sehen, der leuchtete, als das Sonnenlicht hindurchschoss, die weißen Wolken wegbrannte und auf der fernen Ozeanfläche funkelte. Sie stürzten mitten hinein, und das erste, von der Wiedereintrittshitze komprimierte Gas begann über die Nase zu lodern. Sie fragte sich, wo Dans Leiche war und ob man sie je finden würde.
»Ich habe eine Bombe«, sagte sie.
Entschlossen. Laut. Nachdrücklich. Bestimmt.
Ich.
Habe.
Eine.
Bombe.
Vier Wörter, die einen sehr großen Raum voll unangenehmer Möglichkeiten aufspannen und füllen.
Sie wartete, bis die Piloten die Information verarbeitet hatten.
»Senden Sie keinerlei Signale.«
Drohend sah sie den Piloten an, und er zog seinen Fuß zurück und hakte die Spitze hinter den anderen Knöchel.
»Leiten Sie diesen Flug nach JFK um.«
Natalie war, als lebte sie im Leben von jemand anderem, als ritte sie auf einer Welle. Sie fühlte sich, als fantasiere sie, doch dieses Gefühl war ihr von außen nicht anzumerken.
Die Kopilotin sah sie verdutzt an. »Nach New York?«, fragte sie, zog die Brauen zusammen und legte die Stirn in Falten. »Wir fliegen nach Washington, und Sie wollen uns nach … New York umleiten?«
»Genau«, sagte Natalie.
»Zum Teufel, Süße, von D.C. nach New York können Sie doch mit dem Auto fahren«, erwiderte die Kopilotin; ihre Augen wirkten starr und rund in ihrem dunklen Gesicht.
Natalie hielt ihrem Blick stand.
Die Piloten tauschten einen verwirrten Seitenblick.
»Eine Bombe?«, fragte der Pilot. »Wo?«
Natalie klopfte sich auf die Brust. »Hier. Eigens angelegte Körperhöhle. Eine Lunge entfernt dafür. Genug Plastiksprengstoff, um uns alle drei zu erledigen und die Nase abzureißen. Auslöser ist ein Zahnschalter.«
Davon hatte sie in einem Buch gelesen; die Geschichte klang gerade so plausibel, dass sie es damit zu versuchen wagte. Ihre Wut und ihre Trauer wegen Dan verliehen ihr mehr als genügend emotionale Überzeugungskraft.
»JFK.«
Die Kopilotin seufzte und nickte. »Okay, Lady, das ist Ihre Party.«
Der Pilot sagte: »Sie wissen, dass Sie eine mildere Strafe zu erwarten haben, wenn Sie sich freiwillig in Gewahrsam begeben, bevor wir den Kurs ändern und die Behörden informieren müssen.«
»Ach, wirklich?«, fragte Natalie geringschätzig. »Also gut.«
Sie starrten sie an.
»Soll das jetzt ein Scherz sein?«, fragte die Kopilotin und zog wieder die Brauen zusammen.
»Nein«, sagte Natalie und hielt ihr die Arme hin, damit sie ihr Handschellen anlegen konnte. »Das ist völlig ernst. Rufen Sie die Polizei und lassen Sie mich noch auf der Landebahn festnehmen. Ich hab’s mir anders überlegt. Aber das kann ich wieder tun.« Sie grinste.
Der Pilot übernahm wieder das Steuer und gab der Crew Anweisungen für Natalies Festnahme. Die Kopilotin schüttelte nur den Kopf.
»Sie sind bekloppt«, sagte sie zu Natalie. »Dafür kriegen Sie fünf bis zehn Jahre.«
»Auf der Landebahn«, wiederholte Natalie. »Mit vielen Beamten und einem großen, bombensicheren Gefangenenauto.«
Durch die Scheiben sah sie zu, wie die Farbe über ihr allmählich von schwarz zu blau überging.